Straßenbild Ulm

Im Verlauf des Jahres 2020 haben wir mit Unterstützung vieler Menschen alles Mögliche dokumentiert, was in den Ulmer Straßen an extrem rechten Inhalten zu sehen war. Darunter sind
Schmierereien, Flyer und vor allem Sticker. Die allermeisten dieser Vorfälle sind alltäglich. Nur einige auffällige einzelne Ereignisse finden sich bereits in der Chronik. Deshalb haben wir uns entschieden, dieses alltägliche Straßenbild kurz in einem Artikel gesondert darzustellen.

Flyer

Gezieltes Verteilen von Flyern war 2020 primär im Kontext des Themas Corona zu beobachten. Aus dem Querdenken-Spektrum heraus gibt es in Ulm/Neu-Ulm mehrere Telegram-Gruppen, die ausschließlich auf die Bestellung und gemeinsame Verteilung von Flyern ausgelegt sind. Der Titel der Gruppe ist „Freiheitsboten“ und geht auf den bundesweit bekannten Akteur des Querdenken-
Spektrums Dr. Bodo Schiffmann zurück. Die Inhalte der Flyer können mindestens als Desinformation bezeichnet werden. Eine ausführlichere Betrachtung findet sich in einer Recherche von Correcitv-Journalist:innen. 1

Die Ulmer Telegram-Gruppe wurde zu Beginn von Annica Dietrich organisiert 2 , die vermutlich im
Tatoostudio Sundo arbeitet. Sie koordinierte gemeinsame Bestellungen von Flyern, die dann bei
ihr oder im Tatoostudio Sundo abgeholt werden konnten.
Mit wachsender Größe traten drei weitere Personen als Organisator:innen auf. Zum Jahresende
2020 hatte die Gruppe um die 70 Mitglieder. Laut Chat-internen Angaben verteilten die Personen
nicht nur in Ulm, sondern an vielen Orten der Umgebung Flyer. Unter den Mitgliedern der Gruppe
ist auch der Verschwörungsideologe Dr. Daniel Langhans, der laut eigener Angabe in einer unbe-
kannten Druckerei Flyer selbst druckt und sie weiterverteilt.

Ebenfalls Mitglied ist der AfD-Gemeinderat Markus Mössle. Dieser entwarf eigene Flyer in AfD-
Farbenoptik und vermutlich selbstgebastelten „AfD Gemeinderat“ Logo und verteilte sie gezielt
in der Umgebung mehrerer Ulmer Schulen 3 . Inhalt der Flyer waren medizinische Falschbehaup-
tungen zu Covid-19: „Die gute Nachricht: Kinder sind nicht ansteckend. Deshalb: kein Kind hinter der Maske“ Betroffen davon waren die Friedrich List Schule, das Schubart Gymnasium, die Spitalhof-Gemein-schaftsschule und die Straßenbahnhaltestelle vor dem Kepler-Gymnasium. (4) Die Schulleitung des Schubart Gymnasiums warf Mössle vor, Flyer an Gepäckträgern von Fahrrädern angebracht und gezielt nach der sechsten Stunde Flyer an Schüler:innen verteilt und gegen den Beutelsbacher Konsens verstoßen zu haben.

Schmiererein

Abbildung 16: Straßenbilder Ulm

Mehrmals konnten wir 2020 extrem rechten Schmierereien feststellen. Sie lassen sich grob in
zwei Kategorien einteilen.

1. Unbekannter Grad an Ideologisierung/Organisierung

  • Im April waren in der Innenstadt und im Dezember in der Oststadt vereinzelte Hakenkreuze
    zu sehen, die mit Stift an Laternen und Straßenschildern angebracht wurden.
  • Ende Juni wurden zwei Hakenkreuze am Kiosk des Ludwigfelder Sees geschmiert.
  • Am 25.06.20 wurden am Schulzentrum Pfuhl neben einem Hakenkreuz und dem Spruch
    „Heil Hitler“ auch „Fuck School“ gesprüht. Das weist vermutlich auf Jugendliche hin, deren
    Grad politischer Ideologisierung unklar ist.
  • Im Oktober wurden auf dem Gelände des Sportvereins BSV Ulm mehrere NS-Symbole, wie
    Hakenkreuze und SS-Runen, sowie der Aufruf die AfD zu wählen angebracht.

Insgesamt erscheint es unwahrscheinlich, dass dahinter eine organsierte Gruppen steht. Wir gehen vielmehr von Aktionen einzelner Personen und Gruppen aus. Trotzdem sind insbesonder die Vorfälle mit Bezug auf nationalsozialisitische Symbolik nicht harmlos. Sie können ein Zeichen für zunehmende Radikalisierungsprozesse sein. Ob als Provokationsversuche oder Gebietsmarkierungen gedacht, in jedem Fall sind sie einschüchternd bis bedrohlich für Angehörige marginali-
sierter Gruppen.

2. Höchstwahrscheinlich ideologisch motiviert

Im Vergleich dazu gibt es vereinzelte Vorfälle, die sich abheben, da sie wahrscheinlich von Tä-
ter:innen ausgeübt wurden, die ideologisch motiviert sind. Ein Teil davon sind Schmierereien, die
gezielt an bestimmten Orten angebracht worden sind.

  • Im März wurde das Schild des Bürgerhauses Mitte beschmiert, konkret die Wörter „Migration“ und „Integration“. Im Bürgerhaus befinden sich entsprechende Beratungsstellen.
  • Im Mai wurden mehrere Dutzend Briefkästen eines Gebäudes, in dem geflüchtete Familien
    wohnen, beschmiert. Alle Namen wurden durchgestrichen.
  • Im September wurden in unmittelbarer Nähe des Wohnhauses eines afrikanisch-stämmigen Bürgers rassistische Sticker, u.a. von der Identitären Bewegung geklebt, sowie mit Kreide ein Schriftzug angebracht, in dem die Abschiebung der Person gefordert wurde.

Insgesamt ist erkennbar, dass sich gezielte Aktionen ausschließlich gegen Geflüchtete und Mi-
grant:innen richten. Der andere Teil sind Vorfälle, bei dem Botschaften verbreitet wurden, die auf
eine gefestigtere Ideologie hinweisen:

  • Im Mai brachten Personen, die dem Querdenken-Spektrum zuzuordnen sind, mit Kreide am
    Marktplatz Sprüche am Brunnen an. Neben allgemeinen Parolen wie „Leben für Alle“ wurden
    auch der Buchstabe „Q“ und „stop NWO“ und damit eine Anspielung auf die Verschwörungs-
    erzählung von Q-Anon angebracht.
  • Im Juni wurde, laut Berichten der Beobachternews, eine Mühle in Stetten nahe Ehingen
    mit eindeutig neonazistischen Inhalten beschmiert. Es handelte sich um Anspielungen auf
    das Vernichtungslager Auschwitz, NS-Symbolik, zum Widerstand aufriefen und sich gegen
    Integration und Linke richteten.
  • Zum Jahresende wurde an der Rückseite einer Parkgarage nahe der Ulmer Messe der Schriftzug „NS-Zone“ angebracht. An der gleichen Stelle waren in den letzten Jahren ähnliche Sprüche aufgetaucht.

Sonstige

  • Im Dezeber wurden über 20 Plakate des Ulmer Verkehrsverbunds Ding, die dazu aufriefen
    Masken im ÖPNV zu tragen, mit den Worten „Schafe“ beschmiert. (5)

Sticker

Abbildung 17: Sticker von 2020 in Ulm

Im Jahr 2020 sammelten wir ca. 550 Sticker verschiedener extrem rechter Gruppen, die im Ulmer
Stadtgebiet angebracht wurden. Hier eine kurze Auswertung:

Auffällig ist, dass sie nur aus einer geringen Anzahl von Quellen stammen. 70% der Sticker waren
von der Identitären Bewegung, 22,5% von einem Webshop, der von dem extrem rechten Aktivis-
ten Sven Liebich betrieben wird, 5,5% zum Thema Corona und 2% sonstige.

Identitäre Bewegung

Die Sticker der Identitären Bewegung wurden zum größten Teil bei einigen wenigen Aktionen
verklebt. Es ist davon auszugehen, dass mehrere Personen gezielt ein Gebiet bekleben, um mög-
lichst viel Aufmerksamkeit zu provozieren.

Auffällig war hierbei, dass in den letzten Monaten des Jahres 2020 an Schulen und deren Umge-
bungen Sticker auftauchten. Wir gehen hier ebenfalls von einem gezielten Vorgehen aus, womit
eine Reaktion durch Schule und medialer Öffentlichkeit verursacht werden sollte. Daher infor-
mierten wir im Herbst 2020 mehrere Ulmer Schulen über dieses Vorgehen und die eingängigen
Motive.

Auffällig ist, dass ein neues Motiv genutzt wird: Runde Sticker mit dem Lambda-Logo und dem
Schriftzug „Identitäre Bewegung Ulm“. Das ist das zweite Stickermotiv mit direktem Bezug auf
die Stadt Ulm. Im Jahr 2019 verbreiteten Mitglieder der Identitären Bewegung Schwaben bereits
ein Motiv, das den Schriftzug „Werde Teil der patriotischen Bewegung Ulm“ beinhaltete. Zu se-
hen sind circa 17 Personen vor einem Tor. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es sich
hierbei um das Schwarze Tor in Rottweil handelt. Aufgrund der beteiligten Personen und ihrere
Kleidung liegt es nahe, dass das Bild Mitte April 2018 entstanden ist. Am Wochenende des 13.04.
und 14.04. fand in Rottweil ein internes Schulungs- und Vernetzungstreffen der Identitären Bewe-
gung Schwaben in der Jugendherberge statt . (6)

Nach unserem jetzigen Wissensstand gehört nur eine der erkennbaren Personen auf dem Sticker
zur damaligen Ulmer Ortsgruppe. Das Motiv ist weiterhin im Umlauf.

Politaufkleber

Die zweitgrößte Gruppe an Stickern stammt aus dem Shop Politaufkleber, der von Sven Liebich
betrieben wird. Sven Liebich ist ein bekannter Nazi in Halle an der Saale. In den neunziger Jahren
war er u.a. bei neonazistischen Gruppen, wie dem Nationalen Widerstand Halle/Saale oder den
Freien Kräften in Sachsen Anhalt beteiligt. Früh nahm Liebich die Rolle als Betreiber von Shops
und Vertreiber von Zeitschriften an und betrieb bis 1999 einen der größten Neonazi-Vertriebe
der Bundesrepublik. (7) Liebich gab die Zeitung „The New Dawn“ heraus, die von hallensischen
Antifa-Recherchegruppen als das Publikationsorgan der verbotenen extrem rechten Organisati-
on BloodHonor Sachsen-Anhalt eingestuft wird und zu deren Redaktion der mutmaßliche NSU-
Unterstützer Thomas Richter gehörte, auch bekannt als V-Mann Corelli. (8)

Seit den 2010er Jahren kooperierte Liebich mit KenFM 4 , organiserte regelmäßig Montagsmahn-
wachen in Halle (9) und beteiligt sich an diversen Querdenken-Protesten. (10) Im September 2020 wurde Liebich zu 11 Monaten Haftverurteilt, drei Jahre auf Bewährung ausgesetzt, wegen diverser
Delikte, darunter auch volksverhetzende Inhalte in seinem Shop. (11)

Seine Nähe zu neonazistischer Ideologie spiegelt sich auch in den von ihm vertriebenen Stickern
wieder, die in Ulmer Straßen auftauchen. Thematisch stellen sie fast ausschließlich extrem rech-
te Feindbildkonstruktion dar: Die Antifa, „Asylant:innen“, Parteien wie die Linke oder die Grünen,
Greta Thunberg und FridaysForFuture, Merkel oder die Presse. Sie beinhalten oft rassistische
Darstellungsweisen und verleumderische Parodien.

Corona

Sticker zum Thema Corona enthalten entweder Denunziationen von Masken als „Maulkörbe“ oder
Sticker, die mit „Die Drei ???“ überschrieben sind. Letztere sind in verschiedenen Motiven anzutref-
fen, die alle die Maßnahmen und die Pandemie hinterfragen. Eine Version, die zwischen August und Oktober verteilt wurde, enthält die Behauptung die Covid-19-Pandemie sei im März/April zu
Ende gewesen. Auf einigen Versionen wird auf die Internetadresse der Gruppe IchBinAndererMei-
nung hingewiesen. Diese Gruppe besteht aus Impfgegner:innen, die Verschwörungserzählungen
und Falschmeldungen verbreiten. Eine ausführliche Analyse der Inhalte findet sich im Bayrischen
Rundfunkt. (12) Sprecher der Gruppe ist Lothar Hirneise, der bereits für diverse esoterische Aktivitä-
ten bekannt ist. Er veröffentlichte u.a. Bücher und bot sogenannte alternative Krebstherapien an. (13)
Hirneises Inhalte ähneln teilen der Germanischen Neuen Medizin, einer pseudomedizinischen
Lehre, dessen Begründer antisemitische und holocaustrevidierende Aussagen verbreitete. (14)

Sonstige

Unter den sonstigen Stickern finden sich einzelne Sticker der extrem rechten Partei AfD, der neo-
nazistischen Kleinstpartei III. Weg, sowie Sticker aus dem Sortiment der Shops der Hooligan-
Band Kategorie C und einem neonazistischen Skinhead-Vertrieb.

Fazit

Insgesamt wird deutlich, dass bis auf die Identitären Bewegung Schwaben keine extrem rechte
Gruppenstruktur vorhanden ist, die Inhalte mit lokalem Bezug verbreitet.

Klar ist, dass die 550 ausgewerteten Sticker nur einen Teil der gesamten extrem rechten Sticker in Ulm darstellen und die Auswertung lediglich einen Einblick und keine vollständige Analyse darstellt. Grob geschätzt, würden wir von mehreren tausend Stickern alleine im Stadtgebiet Ulm ausgehen.

Wir bedanken uns an dieser Stelle bei allen engagierten Menschen, die kontinuierlich und mit
erheblichen Zeitaufwand nicht nur extrem rechte Inhalte entfernen, sondern auch an uns weiter-
gereicht haben. Über Benachrichtigungen und Hinweise freuen wir uns auch weiterhin.

 

Quellen:

Abbildung 16: Rechte Umtriebe Ulm
Abbildung 17: Rechte Umtriebe Ulm

1 – https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2020/12/18/flyer-maschinerie-corona-gegner-freiheitsboten-desinformation/

2 – Geht aus den öffentlich einsehbaren Inhalten der Chatgruppe hervor, die uns vorliegen

3 – https://www.swp.de/suedwesten/staedte/neu-ulm/ulm-corona-aktion-der-afd-afd-stadtrat-verteilt-flyer-gegen-masken-unter-schuelern-52581157.html

4 – https://www.swp.de/suedwesten/staedte/neu-ulm/ulm-corona-protest-afd-stadtrat-markus-moessle-darf-auf-schulgelaende-keine-flyer-verteilen-52657521.html

5 – https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/corona-masken-nahverkehr-ulm-protest-corona-leugner-beschmieren-dutzende-poster-53647181.html

6 – https://www.nrwz.de/rottweil/junge-rechte-demonstrieren-in-rottweil-friedlich-und-kaum-beachtet/201313

7 – https://www.antifainfoblatt.de/artikel/verkehrung-der-tatsachen

8 – https://hosenrunter.noblogs.org/ex-neonazi-bereichert-sich-an-studierenden/

9 – http://bubgegenextremerechte.blogsport.de/2014/04/27/kenfm-politically-incorrect-und-ein-exnazi/

10 – https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2020/11/Leipzig-am-7-November-Nachwehen-fuer-einen-Querdenker-Video-359175

11 – https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/halle/halle/urteil-im-prozess-gegen-rechtsextremisten-liebich-aus-halle-100.html

12 – https://www.br.de/nachrichten/wissen/faktenfuchs-wie-der-corona-widerstand-desinformation-nutzt,Ry1w3hJ

13 – https://www.psiram.com/de/index.php/Lothar_Hirneise

14 – https://www.psiram.com/de/index.php/Ryke_Geerd_Hamer_und_Antisemitismus##Kurzgefasste_antisemitische_Ansichten_von_Hamer